Maus im Klavier − Paul & Co (Anfang 1900)

Geschenke wirken in zwei Richtungen: Sowohl auf den Beschenkten als auch auf den Schenkenden. Geschenke können materiell und/oder ideell sein. Wenn sich also Jüngere um Ältere kümmern, so wie sich ursprünglich die Eltern um ihre Kinder gekümmert haben, dann ist das ein zwischenmenschlich besonders wertvolles Geschenk. Davon will ich Ihnen erzählen.

Eine Nichte besuchte ihre allein lebende Tante. Diese ist im Wesentlichen mit der Organisation ihres Hauses beschäftigt. Das bestimmt die Struktur ihres Lebens. Doch das ist eintönig und kaum freudvoll, denn es beinhaltet ja kaum erholsame und freudige Aspekte, die das Leben erst lebenswert sein lassen. Diesen Eindruck gewinnt man häufig, wenn man von solchen Mustern erfährt.

Doch in der Wohnung der Tante gibt es auch noch ein Klavier. Das wird schon länger nicht mehr gespielt und somit auch nciht gestimmt und ist folglich wohl auch stärker verstimmt. Die Nichte erkennt intuitiv ihre Chance. Na, wenn es nur an der Stimmung liegt, die verhindert, dass die Tante wieder einmal Klavier spielen kann, das lässt sich doch organisieren! Aber wie nur, fragt die Tante? Die Nichte kennt den Weg, nämlich über die Suche im Internet und nimmt das auch sofort in die Hand. Nach kurzer Recherche findet Sie die Klavierstimmerei Praeludio, ruft die kostenlose 0800-Nummer an, vereinbart zeitnah einen Termin. Anschließend verabschiedet sie sich von der Tante und reißt wieder in ihr circa 300 Kilometer entferntes Zuhause.

Praeludio erscheint pünktlich zum vereinbarten Termin. Die Klavierbesitzerin führt mich zum Piano. Es wird wohl um die 100 Jahre alt sein. Das ist für mich keine Ausnahme, denn circa 50 Prozent der Pianos meiner Kunden sind um die 100 Jahre alt. Damit kenne ich mich also aus.

Doch als ich das Klavier der Marke Paul & Co (Berlin, 1906 - 1929) öffne, sehe ich schon, dass hier etwas nicht stimmt: Eine Vielzahl an Hämmern stehen vorne an den Saiten. Eine ganze Reihe von Tasten hängen nach unten. Oh weh, die Nichte hatte mir mir lediglich die Kosten für eine Klavierstimmung vereinbart und dabei schon ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, dass es hoffentlich ohne Vorstimmung geht. Doch das war hier auf einen Blick erkenntlich, dass hier zusätzliche Arbeiten anstehen. Gehen wir also ins Detail, analysieren wir erst einmal, was mit dem Klavier los ist.

Erstes Vorspiel

In der ersten Lage funktionieren noch alle Tasten. Doch mit jeder Lage werden es weniger Töne, die erklingen. So richtig hart wird es bei meiner Version des ursprünglichen C-Dur-Praeludiums aus dem Wohltemperierten Klavier, dem Praeludio. Das habe ich mittlerweile kultiviert, mein Praeludio trotz aller Handicaps vor der Stimmung so gut wie möglich zu spielen. Manchmal sind die Bedingungen derart schlimm, dass ich ernsthaft Probleme habe, das mir wohl bekannte Stück fehlerfrei zu Ende spielen zu können. So war es auch in diesem Fall. Die Vielzahl der fehlenden Töne musste ich quasi in Echtzeit durch mein inneres Hören ersetzen. Erst als ich mich darauf konzentrierte, gelang es mir überhaupt, meine Version der Komposition von Johann Sebastian Bach bis zu Ende zu spielen.

Anmerkung zu den Bildern: Zum Vergrößern anklicken und dann wieder im Browser oder mit der Maustaste auf Zurück klicken.

  • Ersteindruck Klavier Paul & Co
  • Gerissene Bändchen in der Klaviermechanik
  • Zweites Bild mit gerissenen Bändchen in der Klaviermechanik
  • Klemmende Tasten

Was war die Ursache für den massiven Ausfall an Tönen? Bei circa 15 Tönen waren in der Mechanik die so genannten Bändchen abgerissen. Diese Bändchen haben die Funktion, die Rückholbewegung des Hammers zu optimieren. Somit erklärt sich aufgrund der fehlenden Wirkung der Bändchen das Bild des Ersteindrucks, von den an Saiten stehenden Klavierhämmern. Doch warum klemmten so viele Tasten? Wie sieht es unter den Tasten aus? Ach herrje, in dem Klavier war eine Maus! Die Abfälle der Maus oberhalb der Tasten war teilweise zwischen die Tasten gefallen. Unter den Tasten sah es nicht nur schlimm aus, sondern es stellte sich heraus, dass sowohl die Maus als auch Motten die Filze unter den Tasten an- und aufgefressen hatten. So wurde nun aus der beabsichtigten guten Tat gleich ein Paket von größerem Umfang. Das musste ich natürlich erst telefonisch klären. Aber die Nicht war nicht erreichbar. Was mache ich nur? Nun, ich bereite einfach mal alles vor und warte derweil auf den Rückruf...

Der Rückruf kam, wir klären den finanziellen Rahmen und ich starte. Alle Tasten müssen raus. Das Klavier muss komplett gereinigt werden. Nun kann ich die Filze auf dem Waagebalken, also in der Mitte der Taste erneuern. Die Filze vorne unter der Taste, die verhindern sollen, dass man Klopfgeräusche beim Herunterdrücken der Taste hört, waren glücklicherweise überflüssig, da es sich bei dieser Klaviatur von Anfang 1900 noch um eine Hinterdruckklaviatur handelte. Das heißt, eine Leiste hinten über den Tasten legt fest, wie tief man die Tasten drücken kann. Als ich die Tasten wieder eingesetzt habe, optimierte ich sicherheitshalber bei jeder Taste deren Gängigkeit, indem ich das Potenzial der Reibung im Tastenbodenloch sowie vorne am Vorderstift unter der Taste reduzierte.

  • Unter den Tasten links
  • Unter den Tasten rechts
  • Tastenhinterdruck
  • Bändchen und Filze neu

Zwei Stunden nach meinem Eintreffen konnte ich das erste Mal das Klavier komplett Probe spielen. Am Ende des Vorspiels kam die Klavierbesitzerin und meinte, dass es sich schon gut anhören würde. Doch ich musste sie leider darüber aufklären, dass ich bis jetzt an der Stimmung noch gar nichts gemacht hatte, sondern nur damit beschäftigt gewesen bin, das Klavier überhaupt spielbar zu machen. Nun begann erst mein Bemühen um die gute Stimmung. Das Instrument befand sich auf der Tonhöhe von 394 Hertz. Das sind zwei Hertz über dem Kammerton, der in der Barockzeit in Frankreich üblich war. Das ist ziemlich genau ein ganzer Ton tiefer, als es heute üblich ist. Grundsätzlich ist das kein Problem, wenn man alleine musiziert, sondern eher ein Vorteil. Denn der vergleichsweise tiefere Kammerton erleichtert die Entspannung, während uns ein höherer Kammerton zusätzlich zu der Hektik des Alltags anspannt. Daher habe ich die Tonhöhe so gelassen.

  • Kapodaster im Bass
  • Klavier ohne Mechanik
  • Abnutzung an den Spitzen der Hammerfilze
  • Paul-Klavier fit fürs zweite Leben
Paul-Klavier verstimmt

Noch einmal zwei Stunden später war das Piano wieder spielbar und gestimmt, wie man nun hören kann. Aber schon am Ende meines Praeludios stolperten meine schnellen Finger über die Tasten. Was war da los? Lag es an meinen Fingern oder ist da noch ein Fehler in der Mechanik oder der Klaviatur? Nach ein paar Anläufen klappte es doch noch in voller Geschwindigkeit!

Endstimmung

Doch nun fallen die Details auf, und ich hatte den Ehrgeiz bzw. ich nutzte meine Chance, mir anzuschauen, was die Ursache für die Fehler wie störende Nebengeräusche des rechten Pedals waren. Nachdem auch das gelöst war, konnte ich zum letzten Vorspiel also quasi zum Endspiel schreiten. Um die Rückwirkung der guten Tat für die Schenkende zu optimieren, rief ich sie an, um ihr die gute Stimmung übers Telefon zu vermitteln. Aber es war nur der Anrufbeantworter dran, also habe ich das Praeludio ihr über diesen Umweg vorgespielt!

Die Zugabe für den AB Zum Seitenanfang Zu den Hörbeispielen